Montag, 4. August 2014

"Woyzeck - Aktueller denn je"


 
Eine Entscheidung, die Regisseure bei der Umsetzung eines Werkes fast schon immer und noch viel mehr heute zu treffen haben, ist die Entscheidung zwischen Aktualität und Werktreue. Nicht selten schlagen eine oder andere Inszenierung über das Ziel hinaus, indem entweder das Werk selbst aus der Bühneninterpretation kaum noch zu erkennen ist, oder indem die Inszenierung sich so nah am Werk entlang hangelt, dass es schon fast einen komischen Charakter erhält. Seien wir ehrlich: Zu welchem der beiden Extreme würden wir in unseren Erwartungen wohl eher hin tendieren, wenn es sich denn um eine Schulaufführungen des Woyzeck einer Theater-AG handelte. Ich wage zu behaupten, dass in den meisten Köpfen Schüler in liebevoll ausgewählten Hauptmannskostümen auf die Bühne treten, während sie mit allerhand Requisiten und einem aufwendigen Bühnenbild versuchen die Welt des 19. Jahrhunderts wiederzuerwecken.

Nun diese Erwartungen – hätte ich sie denn je bei diesem Theaterbesuch gehabt – wurden enttäuscht. Ist das nicht wunderbar!!

Ich stehe nun also vor einem Klassenzimmer des Freihofgymnasiums Göppingen an einem Samstagabend und warte gespannt auf die Aufführung des „Woyzeck“ der Theater-AG des Freihofgymnasiums.

Ich öffne das Programmheft und lese „Wir wünschen ihnen einen interessanten, spannenden, aber auch nachdenklichen Abend“ - ich freue mich wahnsinnig. Wahnsinn ist ein gutes Stichwort, denn weiter heißt es: „Der Woyzeck ist der verzweifelte Aufschrei einer von ihrer unmenschlichen Umgebung geschundenen Kreatur“.

Im Raum erwartet mich eine kahle Bühne. Ein Tisch, einige Stühle, ein Besen, zwei Stecken – mehr sehe ich nicht. Und mehr brauche ich auch nicht. Dieses puristische, auf das wichtigste herunter reduzierte, ja fast schon an das französische Avantgarde Theater erinnernde Bühnenbild lässt mich auf eine moderne Inszenierung und ganz eigene Interpretationsansätze hoffen. Noch vor Beginn des Stückes ändert sich die Wetterlage. Donner und die Geräusche von starkem Regenfall unterstützen diese düstere eindrucksvolle Stimmung im Aufführungsraum. Und hier zeigt sich wieder einmal, was eben nur Theater kann: der performative Charakter, diese Einzigartigkeit jeder Aufführung. 

Als die Schauspieler (Schüler der Mittel und Oberstufe) die Bühne betreten mit Jeans und schwarzen T-Shirts mit Aufschriften wie „Ausbeuter“, „Minijobber“, „Pharmaindustrie“ und „Investmentbanker“, da weiß ich, dass ich nun nicht mehr hoffen muss, sondern genießen darf.

Die Theater-AG des Freihofgymnasiums schaffte es den Bogen zu spannen zwischen Aktualität und Werktreue. Auf aktuelle (ja sogar globale) Gesellschaftsprobleme bezogene Elemente der Inszenierung werden zusammengebracht mit der eindrucksvollen, überzeugenden Inszenierung und Präsentation des literarischen Textes Büchners. Diese Gesamtinszenierung der Theater-AG forderte den Zuschauer immer wieder aufs Neue heraus, indem sie ihn hin und her riss zwischen original Text und eigenen Textelementen - Texte, die die Missstände in unserer globalisierten Welt aufzeigten - zwischen Involviertheit in die Handlung, und Distanz – hervorgerufen durch Einbringen verschiedener Arten des Verfremdungseffektes nach Brecht. Diese Involviertheit wurde nicht zuletzt durch die hervorragende schauspielerische Leistung jedes einzelnen Theatermitglieds hervorgerufen, wobei ich hierbei Elisa Feltro als Marie, Max Hoßfeld als Doktor und besonders Julia Hassert als Woyzeck ein ganz persönliches Lob aussprechen möchte. Hierzu gehört auch Natalie Kirsch, welche für jene Distanz hervorrufende Kommentare durch eindringliche Vortragsweise dem Stück seine besondere Note verlieh.


Text: Marie Bertz
Foto(s): Roland Letzel
Regie des Stückes: Heiko Wenzel