Eine Entscheidung, die Regisseure
bei der Umsetzung eines Werkes fast schon immer und noch viel mehr heute zu
treffen haben, ist die Entscheidung zwischen Aktualität und Werktreue. Nicht
selten schlagen eine oder andere Inszenierung über das Ziel hinaus, indem
entweder das Werk selbst aus der Bühneninterpretation kaum noch zu erkennen
ist, oder indem die Inszenierung sich so nah am Werk entlang hangelt, dass es
schon fast einen komischen Charakter erhält. Seien wir ehrlich: Zu welchem der
beiden Extreme würden wir in unseren Erwartungen wohl eher hin tendieren, wenn
es sich denn um eine Schulaufführungen des Woyzeck einer Theater-AG handelte.
Ich wage zu behaupten, dass in den meisten Köpfen Schüler in liebevoll
ausgewählten Hauptmannskostümen auf die Bühne treten, während sie mit allerhand
Requisiten und einem aufwendigen Bühnenbild versuchen die Welt des 19.
Jahrhunderts wiederzuerwecken.
Nun diese Erwartungen – hätte ich
sie denn je bei diesem Theaterbesuch gehabt – wurden enttäuscht. Ist das nicht
wunderbar!!
Ich stehe nun also vor einem
Klassenzimmer des Freihofgymnasiums Göppingen an einem Samstagabend und warte
gespannt auf die Aufführung des „Woyzeck“ der Theater-AG des Freihofgymnasiums.
Ich öffne das Programmheft und lese
„Wir wünschen ihnen einen interessanten, spannenden, aber auch nachdenklichen
Abend“ - ich freue mich wahnsinnig. Wahnsinn ist ein gutes Stichwort, denn
weiter heißt es: „Der Woyzeck ist der verzweifelte Aufschrei einer von ihrer
unmenschlichen Umgebung geschundenen Kreatur“.
Im Raum erwartet mich eine kahle
Bühne. Ein Tisch, einige Stühle, ein Besen, zwei Stecken – mehr sehe ich nicht.
Und mehr brauche ich auch nicht. Dieses puristische, auf das wichtigste
herunter reduzierte, ja fast schon an das französische Avantgarde Theater erinnernde
Bühnenbild lässt mich auf eine moderne Inszenierung und ganz eigene
Interpretationsansätze hoffen. Noch vor Beginn des Stückes ändert sich die
Wetterlage. Donner und die Geräusche von starkem Regenfall unterstützen diese
düstere eindrucksvolle Stimmung im Aufführungsraum. Und hier zeigt sich wieder
einmal, was eben nur Theater kann: der performative Charakter, diese
Einzigartigkeit jeder Aufführung.
Als die Schauspieler (Schüler der
Mittel und Oberstufe) die Bühne betreten mit Jeans und schwarzen T-Shirts mit
Aufschriften wie „Ausbeuter“, „Minijobber“, „Pharmaindustrie“ und
„Investmentbanker“, da weiß ich, dass ich nun nicht mehr hoffen muss, sondern
genießen darf.
Die Theater-AG des
Freihofgymnasiums schaffte es den Bogen zu spannen zwischen Aktualität und
Werktreue. Auf aktuelle (ja sogar globale) Gesellschaftsprobleme bezogene
Elemente der Inszenierung werden zusammengebracht mit der eindrucksvollen,
überzeugenden Inszenierung und Präsentation des literarischen Textes Büchners.
Diese Gesamtinszenierung der Theater-AG forderte den Zuschauer immer wieder
aufs Neue heraus, indem sie ihn hin und her riss zwischen original Text und
eigenen Textelementen - Texte, die die Missstände in unserer globalisierten
Welt aufzeigten - zwischen Involviertheit in die Handlung, und Distanz –
hervorgerufen durch Einbringen verschiedener Arten des Verfremdungseffektes
nach Brecht. Diese Involviertheit wurde nicht zuletzt durch die hervorragende
schauspielerische Leistung jedes einzelnen Theatermitglieds hervorgerufen,
wobei ich hierbei Elisa Feltro als Marie, Max Hoßfeld als Doktor und besonders
Julia Hassert als Woyzeck ein ganz persönliches Lob aussprechen möchte. Hierzu
gehört auch Natalie Kirsch, welche für jene Distanz hervorrufende Kommentare
durch eindringliche Vortragsweise dem Stück seine besondere Note verlieh.
Text: Marie Bertz
Foto(s): Roland Letzel
Regie des Stückes: Heiko Wenzel